Mittwoch, 8. Februar 2017

Wer bist du wirklich? Kritik: Moonlight (2016)

Es gibt ihn auch in aller Regelmäßigkei: den absoluten Underdog bezüglich der Produktionsumstände im Rennen um den Oscar. Dieses Jahr nennt er sich "Moonlight", hat ein schmales Budget von 5 Millionen Dollar und steht momentan bei respektablen 8 Nominierungen. Die Beachtung bei der Preisverleihung mag erstmal überraschen und dürfte vorschnell in Zusammenhang mit der letztjährigen Debatte über die fehlende Repräsentation von schwarzen Schauspielern gebracht werden. Eine solche Versteifung tut "Moonlight" jedoch nicht nur unrecht, sondern verstellt den Blick auf einen der wunderbarsten Filme der letzten Zeit (auf eine genauere Zeitspanne wird durch eine Vermeidung LeSamourai'scher Superlative verzichtet). Der zweite Langfilm von Barry Jenkins erzählt die Geschichte von Chiron, einem schwarzen Jungen, der sich durch 3 Lebensabschnitte, und dabei vor allem mit seiner drogenabhängigen Mutter und seiner eigenen Homosexualität, kämpfen muss. Jede Phase in Chirons Leben erhält hierbei einen eigenen Namen, angefangen mit dem Spitzname "Little", womit der entsprechend kleine achtjährige Chiron benannt wird. Von den Kindern aus seiner Nachbarschaft wird er gehänselt, lediglich der gleichalte Kevin scheint sich für ihn zu interessieren. Die stärkste Bezugsperson ist indes der Drogendealer Juan (Mahershala Ali), der ursprünglich von Kuba stammt und Chiron unter seine Fittiche nimmt, während seine Mutter dazu nicht in der Lage ist. Dank Juan lernt Chiron nicht nur zu schwimmen, sondern sich zum ersten Mal wie die sprichwörtliche Mitte der Welt zu fühlen, was in einer taufenähnlichen Szene virtuos dargestellt wird. Die Kamera versinkt hier fortwährend im Meeresspiegel und steigt ebenso wieder auf, während sich Chiron nur treiben lassen muss. Juan wird nicht nur zu einem Vorbild, welches Chiron zeitlebens nicht mehr loslassen wird, er erzählt auch von der Eigenart, dass schwarze Jungen im Mondlicht durch ihre Haut eine bläuliche Färbung bekommen. Was für eine poetische Tatsache.


Der zweite Lebensabschnitt trägt mit "Chiron" den Eigennamen des Protagonisten. In diesem zweiten Akt fehlt seine so wichtige Vaterfigur (wahrscheinlich ist sie dem gefährlichen Leben eines Dealers zum Opfer gefallen), nur dessen Freundin Theresa bleibt die Ersatzmutter für Chiron. Der leidet weiter unter den Quälereien seiner Mitschüler, die von Chirons Art anders zu sein, angetrieben werden. Selbst Kevin ist zu einem großmäuligen Teenager verkommen, der mit seinen sexuellen Eroberungen prahlt, jedoch noch immer etwas für Chiron übrig hat. So folgen deren erste Berührungen am nächtlichen Strand, die ein einschneidendes Ereignis für Chiron bilden. Kevin lässt sich allerdings von den Anfeuerungen dazu anstiften, sich gewalttätig an Chiron zu vergehen. Zwangsläufig führen die damit einen neuen Höhepunkt erreichenden Demütigungen zu einem Gewaltausbruch Chirons, der eine Unterbringung in staatlichen Institutionen nach sich zieht. Möglicherweise fühlt man sich an das Schicksal der Figur Randy Wagstaff aus der HBO-Serie "The Wire" erinnert. Wie sich eine Person in derartigen unpersönlichen Strukturen verändert, könnte nun der dritte Akt zeigen. Die Betonung muss hierbei auf "könnte" liegen, denn 10 Jahre später hat sich Chiron zweifellos äußerlich verändert in dem Sinne, dass er durch seinen muskulösen Körper und die Ausstrahlung eines ruchlosen Gangsters an sein ehemaliges Idol erinnert, diese jedoch schnell als reine Fassade entlarvt werden. In seinen Alpträumen wird er weiterhin von seiner Mutter verfolgt, sowie von Kevin, den er gleichfalls nicht vergessen kann. Nun folgt in diesem Schlussakt, der sich schlichtweg "Black" nennt (was in diesem Fall kein Merkmal bezeichnet, sondern Kevins Name für Chiron) das schmerzhafte Wiedersehen nach langer Zeit. Spätestens jetzt erreicht der Film eine emotionale Intensität, die sich nur schwer ertragen lässt.


Und deshalb ist die Independent-Produktion eine ungewöhnliche Wahl unter den Oscar-Kandidaten. Es ist kein formelhaftes Biopic und verneint auch sämtliche Feelgood-Angebote an den Rezipienten. Stattdessen werden unangenehme Fragen der Identität gestellt, die unter anderem die Herkunt, Hautfarbe und Sexualität einer Person umfassen, ohne sie zu simplen Lösungen oder gar zu einer Erlösung zu führen. Selbst nach dem finalen Geständnis bleiben sie: die Widersprüche und Wirrnisse, die Chiron mit sich herumträgt. Alle 3 Schauspieler sind in der Lage, Chirons tragische Entwicklung einfühlsam und glaubwürdig zu vermitteln. Eine Nähe zur Figur wird durch den Einsatz von Steadycams erreicht. Ungalublich, wie dennoch die ästhetische Qualität nicht verloren geht. Ebenfalls mutet der Soundtrack ungewöhnlich an, der klassische Musik in dissonanter Form in ein prekäres Setting trägt und damit vermeintliche Grenzen der Kultur aushebt. Denn Grenzen kennt "Moonlight" ohnehin keine, auch keine erzählerischen. Das auf dem Theaterstück "In Moonlight Baby Boys Look Blue" basierende Drehbuch zeigt die prägnanten Punkte im Leben eines Individuums, alle weiteren Subplots und Anknüpfungspunkte wären Ballast gewesen und würden nur den Erzählfluss stören. Die letzte Einstellung muss in der Schwebe bleiben und enbehrt einer eindeutigen Zuordnung. Letztlich ist "Moonlight" vielleicht nicht rundum perfekt, aber zumindest sehr nahe dran. Zwar wird er wahrscheinlich die wichtigsten Oscars gegen das durchaus gelungene Retro-Musical "La La Land" verlieren, den Wagemut des Films in Zeiten Trump'scher Verblödung kann das aber auch nicht ansatzweise schmälern.

                                                                          9/10

Autor: DeDavid

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