Mittwoch, 30. März 2016

Pistolen, Tänze, und Blickwechsel - Kritik: Die langen hellen Tage (2013)


Hervorragend gemachter Film des georgisch-deutschen Regiepaars Nana Ekvtimishvili und Simon Gross, der allerdings etwas zu didaktisch daherkommt. Schwerfällige Aussagen belasten den Zuschauer, der mit allerlei Übel konfrontiert wird. Im Georgien kurz nach der Unabhängigkeit mangelt es an Problemen nicht. Lebensmittelknappheit, Gewalt auf offener Strasse, antiquierte Geschlechterrollen, Heirat von Minderjährigen, dysfunktionale Familien, alkoholisierte Väter. All dies taucht auf im Milieu, für das wir während gut 90 Minuten geworfen werden. Ein Milieu, das äusserst authentisch gezeichnet wird, Stichwort „Realismus“: den Schmutz in den Kachelböden der Toilette kann man förmlich riechen; die Kamera verharrt zuweilen noch über das Ende der eigentlichen Aktion hinaus auf dem Umfeld, z. Bsp. einer Strasse, und Menschen marschieren ins Bild, frei vom Kontext der Handlung, Menschen die nicht dem Verstand des Erzählers entspringen, sondern dem Ort. Die Audiospur, genauso „realistisch“, ist voll von Strassenlärm und Vogelgezwitscher. Und doch: inwiefern kann man einen Film realistisch nennen, dessen Handlung in erheblichen Masse konstruiert ist, und zwar so konstruiert, um dem westlichen Zuschauer dieses bestimmte Milieu mit all seinen ihm inhärenten Problemen möglichst effektiv näherzubringen? Andererseits ist Kino, wie Pedro Costa sagt, dazu da, Menschen auf etwas aufmerksam zu machen, zu zeigen: hier läuft etwas falsch.
Die beiden Hauptdarstellerinnen, zu regelrechten Heldinnen stilisiert, sind innerlich äusserst starke Mädchen, die sich zur Wehr setzen, schlussendlich ohne dabei Gewalt anzuwenden. Jede Sequenz dient dafür, irgendeine Ungerechtigkeit oder Schwierigkeit zu zeigen, mit denen die Mädchen zu kämpfen haben, ob zu Hause, in der Schule oder auf der Strasse. Der Vater des einen Mädchens ist abwesend (er steckt, wie sich nach und nach herausstellt, im Gefängnis), derjenige des anderen Mädchens Alkoholiker und dauernd im Streit mit der Mutter; und auch von der Grossmutter wird das arme Mädchen nur angeschrien. Die Lehrerin verweist die Mädchen vor die Tür, obwohl diese nur zum Opfer ihrer Kameraden geworden sind oder schlichten wollten. Um an Brot zu kommen, muss lange angestanden werden, während die Soldaten des Bürgerkrieges ruhig an der Schlange vorbeispazieren.


Die gut gemeinte Absicht des Films wirkt so am Ende etwas belehrend. Dennoch kann man die dem Film innewohnende Kraft nicht leugnen; herausragend sind dabei einzelne Szenen, vor allem in der zweiten Hälfte, die plötzlich nicht aufgesetzt, sondern wahr wirken, etwa ein Tanz, den das eine Mädchen mit steifem Gesichtsausdruck und nach etwas Alkohol vorführt, obwohl sie - und wir mit ihr -  die Feier, in dessem Rahmen der Tanz stattfindet, nicht geniessen kann. Eine Art kathartischer Tanz, in sich das Mädchen und eben auch der Zuschauer die ganze Verzweiflung von der Seele "schreien" kann, ähnlich demjenigen am Ende von Claire Denis` „Beau Travail“. Auch wird der Film sofort stark, wenn er ins Melodramatische gerät, also eine bewusst aufgesetzte Liebesgeschichte erzählt. In einer Szene gegen Ende stehen sich das bereits verheiratete Mädchen und der Junge, der sich in sie verliebt hat (also der ehemalige "Konkurrent" ihres Mannes) gegenüber; und während gleich daneben ein Gitarrenspieler ein melancholisches Lied über unmögliche Liebe singt, wechseln die beiden Blickkontakte. Hierbei sehen wir plötzlich eine shot - reverseshot - Sequenz, auf die der Film bisher zugunsten langer Kameraeinstellungen tendenziell verzichtet hat, die uns wuchtig mitreisst und emotional berührt. Dies, obwohl die Schauspieler weder eine besonders uns manipulierende Mimik verwenden, noch bestimmte herzzerreissende Dialoge zum Besten geben - die Kraft der Szene rührt einzig aus dem Schnittraum (à la Kuleshov-Experiment):

 (das verheiratete Mädchen links, ihre Freundin rechts)





Ein erzählerischer Kniff hilft dabei, dass den ganzen Film über Spannung herrscht: eine Pistole, die einem der Mädchen geschenkt wird, sorgt beinahe für Suspense. Alles scheint auf eine Eskalation zuzusteuern, bei der die Pistole wohl eine wichtige Rolle spielen wird… so scheint es. Vergleichbar ist das mit einer Hitchcock-Situation, bei der Menschen um einen Tisch sitzen und sprechen, während wir als Zuschauer wissen, dass unter dem Tisch eine Bombe tickt.

7.0 / 10

Autor: Cameron 

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