Sonntag, 27. Mai 2012

Die triebsamen Früchte des Inneren - Kritik: "Blindness - Die Stadt der Blinden"

O: Blindness, USA 2008 R: Fernando Meirelles mit Julianne Moore, Mark Rufallo, Alice Braga und Danny Glover
 [...] - Spoiler

Was wir sehen, ist bitterkalte Angst, verzweifelte Gesichter, terrorisierende Tumulte und pulsierende Anarchie. Für uns ist es unvorstellbar. Für die, die wir sehen, das Ende. Sie sind einander ausgeliefert; ohne Gesetz und ohne System. Sie sind Gefangene von Verwaltungsprinzipien, die sich selbst nicht mehr ernähren, gibt es niemanden, der sie füttert. Es würde keine Rolle spielen, ob das gegen unser prinzipielles „Wollen“ wäre, denn letztlich würden sich über jeden die gleichen Schleier legen. Was diese nun bewirken oder hervorrufen würden, ist die entscheidende Frage. Und es lag wohl im Ermessen des Filmes und des gleichnamig adaptierten Buches Josè Saramagos sich dieser Hypothesenfindung zu stellen.
In „Die Stadt der Blinden“ gibt niemand vor, wie Ordnungen zu bewahren, Abläufe zu strukturieren und gesellschaftliche Fortbestände zu sichern sind. Niemand garantiert für irgendwas. Regeln verfallen und Chaos triumphiert. Diese Vision ist erschütternd, wenn auch nicht neu und wenn auch nicht qualitativ geschult. Doch die Tatsache, dass hier (fast) alle Menschen ohne ersichtlichen Grund erblinden, und sich gerade erst deshalb diese anarchistischen wie nicht minder apokalyptischen Zustände einstellen, ist es, die „Blindness“ zumindest übers Durchschnittsvermarkungsziel hebt.
Denn die manchmal schon fast metaphorische Wirkung, die die Frage nach dem „Warum“ in den Hintergrund drängt und eher eine individuelle Selbsterklärung fordert, ist ein interessewahrendes Gut.

Was wir sehen, ist nicht, was wir sehen, sondern was wir sind“, schrieb Fernando Pessoa in seinem „Buch der Unruhe“. Möglicherweise hindert uns das Sehen aber gerade an der Erkenntnis, was wir sind. In „Stadt der Blinden“ müssen die Bewohner ihr Augenlicht verlieren, um zu verstehen, wer sie sind oder besser: um zu begreifen, was sie noch sind. Dass führt zu aufwühlenden Gedankenspielereien und auch die finale Umsetzung der Lernprozesse in Form der Fragestellung, wie ich ohne eine Sinneswahrnehmung ‚weiterleben‘ kann, ist stilistisch annehmbar gelöst; insbesondere, weil es so schwierig ist, Blindheit zu visualisieren. Regisseur Fernando Meirelles, verantwortlich für den großartigen „City of God“ und die Pharmagurke „Der ewige Gärtner“, spielt mit grellen Farben, angreifenden Tönen und legt weiße Hüllen über die, die ihr Augenlicht verlieren. Er lässt uns sehen wie sie – zu einem Teil zumindest. Immer noch ist es aber enttäuschend, dass der gebürtige Brasilianer keine Feinheiten im Umgang dieser Mittel zu kennen scheint. Er drückt sie uns auf. Und das wirkt nicht selten unangebracht, proletenhaft und störend. Wieder und wieder sehen wir grelle Schimmer, wieder und wieder das gleiche Spiel. Atmosphärische und emotionale Belanglosigkeiten sind die Folgen dieser maßlosen Übertreibung. Das ist aber nur ein Bruchstück der Absenzen, die sich „Blindness“ aufgrund der schwergewichtigen Thematik glaubt leisten zu können.

Diktatur nach innen und außen: Eine Flucht aus dem sich aufbauenden Regime ist nicht möglich

Das Schlimme: Der Ursprungskern der Probleme baut sich schon formal auf. Denn Meirelles gliedert die ohnehin recht dünne Geschichte ohne wirkliche Handlungsträger oder Identifikationsfiguren in grob drei Themengebiete ein: Ausbruch, Umgang und Bestehen. Die Vielzahl landet bei der zweiten Phase – dem schwächsten Glied in der Reihe. Es ist ein etwas seltsames Experiment, das Meirelles und wohl auch der Buchautor Josè Saramago, hier durchzuführen versuchten. Vermeintlich ist die Blindheit ein Alibi für das Kammerspielchen, das sich in „Die Stadt der Blinden“ bald darauf entwickelt. In morschen und heruntergekommenen, mau eingerichteten und unterversorgten Gemäuern sperrt die ratlose Regierung die ein, die an der unerforschten Krankheit, im Film auch als weiße Seuche bezeichnet, leiden. Abgeschottet von der Außenwelt und umzingelt von militärischen Einheiten müssen die Blinden ihren Alltag selbst organisieren; inklusive der Einteilung der seltenen Essenslieferungen. Dass das Recht des Stärksten um sich greift, darauf muss niemand lange warten – und der Mächtigste ist im übelsten Falle der, der die Knarre hat. Altmodisch, wenn auch nicht generell abwegig. Und so ist es auch hier; irgendeiner beschließt sich und seinen ‚Bereich‘ über die anderen zu stellen – und wird dies in Zweifel gestellt, droht er mit Feuergewalt. Interessant wäre es dahingehend gewesen, hätte niemand eine Waffe gehabt, sondern einfach betont, sie würde benutzt werden, wenn es unabdinglich wäre. Die Schusswaffe in „Blindness“ ist jedoch de facto zugegen.
Und Meirelles hat noch ein As im Ärmel: Neben einem geladenen Revolver, gibt es jemanden, der immun gegen das ist, was geschieht. Warum? Das wird nicht geklärt. Interpretationsansätze bleiben chancenlos, denn liefert das Drehbuch keinerlei bedeutungsvolle Hinweise, warum gerade eine mittelständische Frau (gespielt von Julianne Moore), welche auch von allzu menschlichen Charakterschwächen gezeichnet ist, nicht vom weißen Schleier überzogen wird. Soll das eine metaphysische Betrachtung verstärken? Oder fungiert sie vielleicht als Anführerin aus unmenschlichen Talfahrten in die Menschlichkeitsebenen? Es wäre zwecklos, würde ich jetzt beginnen zu deuteln, denn schlussendlich wäre ich mir selbst uneins, ob ich damit zufrieden sein könnte. Meirelles bietet mir viel zu wenig zugängliche Einblicke, viel zu wenig Intimität. Und obwohl seine Symbolik scharfsinnig ist – so führt er unter anderem anhand von gefühllosen Sexszenen die Hoffnungslosigkeit vor; Sex gegen Beklommenheit, Sex für Essen -, genügt mir das nicht, um die schwächelnden Figurenzeichnungen zu entschädigen.
Ich möchte dem Film keine Dummheit vorwerfen oder ihn als provisorisch schlauklug abtun, aber ich erlaube mir zu sagen, dass es „Blindness“ an Komplexität und schlichtweg Logik mangelt. Mir will es nicht in den Kopf, dass sich eine sehende Frau, die alles Grauen mit sechs Sinnen wahrnehmen kann, lieber für Brot und Wasser misshandeln lässt, als vorteilhaft für sich und andere zu denken – und es wäre eine peinliche Ausrede, würde man dies mit der Angst vor den Konsequenzen begründen, gibt es doch genug Szenen, die das wiederum wiederlegen. Und genau das ist der Punkt: Der Film ist in sich zerstritten, merkwürdig uneinig in seinen Komponenten, schockierend, aber langweilig, gewollt anspruchsvoll, aber doch gehaltlos. „Die Stadt der Blinden“ ist nicht so gut, wie er sich gibt und schon gar nicht so wertvoll, wie die von ihm an sich selbst gestellten Ansprüche.


Die letzte Phase des Films: Das Bestehen im Kollektiv wird unvermeidlich, Zusammenarbeit unabdinglich

Was bleibt ist ein kurzweiliges Momentum, das sich durch gute handwerkliche Arbeit, lassen wir nervende optische Ausschmückungen einmal außen vor, zumindest nicht gänzlich nackt und hilflos an den öffentlichen Pranger stellt. Beschränkt man Blindness allerdings auf inhaltliche Nachhaltigkeit, dann sollte und wird hoffentlich jedem klar, dass das ein tendenziell schrecklich von sich selbst eingenommenes Exemplar ist. „Bitte beachte mich, bitte finde mich furchtbar kritisch, bitte, bitte, bitte …“, eine Hilfeschrei eines Films, der sich sein Schicksal selbst zugefügt hat – und zu Recht gescheitert ist.  
Die Botschaft des Werks, die sich dem Dienste des Humanismus verschrieben hat, ist glasklar und macht sich am banalen, aber ableitbaren und wohl auch taktisch klügsten Ende deutlich. „Wir haben verstanden, Herr Lehrer, Herr Oberkonstruktivergravitätischerfilm“, das möchte man von uns hören; einen Applaus vielleicht auch.
[Wir waren blind und würden nun einander sehen; besser, klarer und deutlicher, als wir je zuvor geglaubt haben. Akzeptieren könnten wir, gleich wenn der womögliche  Rückschritt eingeläutet wurde. Dies begründet Meirelles/Saramago nicht anhand der Blinden, sondern anhand der Person, die es nie war: „Und was war mit dieser Frau die jetzt so seltsam still war, die so eine ungeheuerliche Last getragen hatte und nun plötzlich davon befreit war.“ Ein konsequenter Schritt und Schnitt. Die Position, die Julianne Moore beinahe über den ganzen Film innehatte, wird ihr plötzlich entzogen, sie wird von ihr entbunden; ist befreit. Aber wie fühlt sich das schon an, wenn man der Normalität aufs Neue beraubt wird – und sich wieder anpassen, sich wieder umstellen muss? Während sich jene Erblindete über die allmähliche Rückkehr ihrer Sehkraft freuen, ist es für diejenigen, die durch die Blindheit anderer eine elementare, wichtige und leitende Position zugesprochen bekamen, eine erbitterliche Qual. 
Man wird umso schwächer je weniger man zu gehen bereit ist. Umso logischer und einleuchtender ist dann der letzte Satz des Films, der tiefer in die Persönlichkeit und Psyche der geheimnisvollen Immunen blicken lässt als irgendeine Szene zuvor. Mit den Worten Ich werde blind, dachte sie werden wir aus dem Geschehen gerissen. Und diese Empfindung ist nur allzu verständlich; und lässt erahnen, dass auch Stärke Schwäche kennt und schützende Fassaden bröckeln können, hat man sich an die vermeintliche Sicherheit dieser gewöhnt.]


5.5 / 10 
Autor: Iso

2 Kommentare:

  1. Ich hätte nie solch treffende Worte für "Stadt der Blinden" gefunden, Glückwunsch zu diesem gelungenen Text. Phasenweise ging mir der Film im Mittelteil zu sehr Richtung "Das Experiment" und vertiefte damit ein Handlungselement, welches man meiner Meinung nach kürzer hätte fassen können. Und das letzte Drittel, ein theoretisch interessanter Part, wackelte stark in seiner Glaubwürdigkeit.
    Ich kenne die Vorlage zwar nicht, war aber nach Sichtung des Films überrascht, dass der Autor sich so lobend über die Verfilmung seines Buches äußerte.

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    1. Ja, er missbraucht halt seine grundinteressante Thematik mit totgetretenen Klischees. Ich kann jetzt nicht behaupten, er ist so schlecht, dass ihn jeder aufgrund ausgewachsenen Schwachsinns abgrundtief hassen muss, aber verdient halt auch nicht mehr Aufmerksamkeit. Restverwertung, mehr war das nicht. Der von Dir genannte Film hat die zweite Phase des Films besser, weil ausführlicher und um einiges beklemmender beschrieben und "Children of Men" - wie einige andere Filmchen - die erste und dritte.
      Und ja, die Huldigung des Autors hat mich auch etwas verwundert - insbesondere weil er ja zudem Literaturnobelpreisträger ist. Ich kenne sein Buch nicht, will ich auch nicht mehr, nachdem er den Film mit Lob umjubelte, aber entweder es ist nicht besser oder er ist sich einfach bewusst, dass das das Optimum war - und dem kann ich auch zustimmen. Ob mans dann loben muss, nur weils besser nicht geht, ist eine andere Frage, aber grundsätzlich ist es halt unwahrscheinlich schwer, wenn man Blindheit visualisieren will - und vielleicht sollte man in einem solchen Fall Buch einfach Buch sein lassen; und ich hätte es eventuell auch mal gelesen.

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