Mittwoch, 28. Dezember 2016

Wechselndes Licht - Klassiker der Extraklasse: Farrebique (1946)

„Farrebique ou les quatre saisons“ – so der volle Name eines Films von Georges Rouquier, auf den ich gestossen bin, ohne dass ich je etwas von Film oder Regisseur gehört hätte. Ein Film über das Leben einer Familie in einer abgelegenen Region Frankreichs, die eine Farm namens „Farrebique“ bewohnt. Es ist ein Film, von dem ich nicht sagen könnte, ob es Dokumentation oder Fiktion ist; ich mag diese Bezeichnungen nicht, denn, wie schon oft gesagt, ist jede Fiktion auch eine Dokumentation (jeder narrative Film ist zugleich eine Dokumentation seiner eigenen Entstehung), und jede Dokumentation eine Fiktion, die nur schon mit der Entscheidung entsteht, was in den Kamerakader gefasst werden soll. Solche „die [eben nicht vorhandenen] Grenzen verwischenden“ Filme sind heute besonders auf Festivals in Mode, aber Farrebique ist ein aussergewöhnlicher Film, direkt nach dem Krieg (der unerwähnt bleibt) mit einer äusserst kleinen Crew gedreht. Nach dem Motto „die Realität aufnehmen heisst, sie nachzuspielen“ spielen die Familienmitglieder sich selbst; sie diskutieren jedoch in stark theatralisierten Bildern.

Gleich der Vorspann führt uns in die Welt des Films ein; in Vignetten werden uns die einzelnen Familienmitglieder vorgestellt. Und bereits diese Vignetten sind extrem stilisiert: Über die Gesichter huschen wilde Schatten, das Licht verändert sich. Auf diese Schatten, die auf den Gesichtern tanzen, stossen wir später noch öfter. Wechselndes Licht, das ist so etwas wie das Leitthema des Films. Wechselndes Licht, das bedeutet: wechselnde Jahreszeiten, Tageszeiten, der Fluss der Natur.  Immer wieder sehen wir in Zeitrafferaufnahmen, wie sich die Schatten verändern - manchmal von einzelnen Dingen wie ein Gitter oder Blätter, manchmal von Häusern oder einer Totalen der ganzen Region. Und mit dem Licht verändert sich auch die Konsistenz, die Substanz, der Geschmack der Dinge.





Was sofort auffällt, ist ausserdem ein ungewöhnlicher Schnitt-Rhythmus, der zunächst verwirren kann. Die Kamera bleibt still, dafür wird sehr oft geschnitten (sowohl beim Menschen, den Familiendiskussionen, als auch bei den Naturaufnahmen; diese Bereiche werden sowieso dauernd parallelisiert, gleichgesetzt). Die einzelnen Aufnahmen sind oft gleich lang, jeweils nach ein paar Sekunden erfolgt ein Schnitt, ganz gleich, ob wir jetzt eine Grossaufnahme oder eine Totale zu sehen bekommen haben. Das wirkt zunächst etwas desorientierend, da wir teilweise das Gefühl haben, nicht genug Zeit zu bekommen, um alle Informationen pro Bild aufzunehmen und zu verarbeiten. Diesen rhythmische Schnitt-Stil würde ich würde ich mit einzelnen Farbtupfern vergleichen, die alle gleich gross sind und zusammen ein impressionistisches Gemälde ergeben. Nicht caméra-stylo, sondern caméra-Pinsel, also. Jedes einzelne Bild, jeder Tupfer vermittelt uns ein gewisses Gefühl, vermittelt uns eine Lage, eine Atmosphäre, eine Substanz, die wir intellektuell nicht immer erfassen können. Gerade dadurch wirken alle Bilder aber ausgesprochen reell; sie sprechen zu uns, wir können sie riechen. Betrachten wir als Beispiel folgende haarsträubend schöne Montage-Sequenz (die den Winteranfang einläutet und Bild für Bild so im Film vorkommt):










Manchmal ergibt sich aus diesem Schnittstil sogar eine lustige "Pointe". Da wir immer dazu tendieren, ein Bild als Reaktion auf das Hervorgegangene zu sehen (auch wenn es diese Kausalität in Teilen des Films genau nicht gibt), sehen wir hier, wie die Kuh dem Bauern "antwortet": 




Ein dritter Punkt, der auffällt: wie viel Bilder eingeflochten sind in ein Gewebe aus Erinnerungen, Visionen, Vorstellungen, oder Träumen! Für einen so scheinbar einfachen "Dokumentarfilm", der nicht mehr will, als uns das Leben auf dieser Farm zu präsentieren, ist das ungewöhnlich. In der Mitte gibt es z. Bsp. eine lange Erinnerungs-Szene des Grossvaters, der erzählt, wie er hier aufgewachsen ist, wie sich das Haus verändert hat, und was mit seiner Familie geschah (der Vater starb im 1. Weltkrieg). Dabei ergibt sich dieser wundervolle Schnitt, bei dem von einer Landkarte auf eine Treppe (die für ein neu gebautes Stockwerk steht) überblendet wird, die aber, wird sie zweidimensional gelesen, neue Felder/Zonen zur Landkarte hinzufügt:


Oder wie sich der jüngere Sohn vorstellt, wie die baldig kommende Elektrizität sein Handwerk verändert:






Oder wie derselbe Sohn von der Tochter des Nachbars träumt: 





Durch diese immateriellen Bilder oder besser: Bild-Vorgängen resp. Bild-Verbindungen kommt automatisch Melodrama in den Film, was einen Gegenpart (oder gerade eine Symbiose) zur zuvor beschriebenen hyper-reellen Komponente ergibt. Das ist vielleicht die grösste Leistung des Films; diese beiden Modi unter einen Hut zu bringen!

++
Cameron


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