Mittwoch, 13. Juli 2016

...and Life Goes On - Klassiker der Extraklasse: The Long Gray Line (1954)


Selbst in diesem so zahlreiche Höhepunkte aufweisenden Œuvre John Fords sticht die CinemaScope-Produktion „The Long Gray Line“ (1954, für Columbia) heraus; wenn nicht als einer seiner besten, dann auf jeden Fall als seiner interessantesten Filme. Nur schon die Tatsache, dass das Leben eines Mannes während über 50 Jahren gezeigt wird, von ein- und demselben Darsteller, ist eindrücklich.
Dieser Mann ist Marty Maher (Tyrone Power), irischer Immigrant, der Ende des 19. Jahrhunderts nach West Point, der US-amerikanischen Militärakademie kommt, dort als Kellner, Hilfskraft und Instruktor arbeitet, eine ebenfalls irische Frau (Köchin, Maureen o‘Hara) findet und dabei unter anderem 2 Weltkriege miterlebt. Wie so viele von Fords Helden ist er ein Mediator; jemand, der, selbst ein Fremdling, zwischen anderen Menschen vermittelt, zwischen Menschen und der Institution (der Akademie). Zuweilen tritt Maher sogar als Kuppler eines Liebespärchens in Erscheinung. Zu Beginn des Films spielt Ford die Unterschiede zwischen Maher (resp. dessen Aussenseitertum: als Ire wird er verspottet) und dem West Point zugunsten humorvoller, absurder Szenen aus; „What is this place? Is it maybe a prison, or a looney house?“ – „This is the United States Military Academy“, heisst es, als Maher den Campus zum ersten Mal betritt. Er wird zeitweise Box- und Schwimminstruktor, obgleich er weder Boxen noch Schwimmen kann.


Der thematische Reibung des Films: Während Marty altert, bleibt die Institution genau gleich; so wiederholen sich denn auch Bilder, Rituale und Worte („subsist, subsist“ der Rat des Vaters, den Maher später an einen Ziehson weitergibt). Fords Vorliebe für Paraden, Märsche und Tänze kommen hier voll zur Geltung; Militärparaden durchsetzen die Handlung und werden als Symbol für das immer Fortwährende, Unerbittliche, Drängliche gehandhabt, als Symbol für den Lauf des Lebens. Oft setzen sie ein an Momenten, an denen Maher zweifelt: Nach der Fehlgeburt eines Sohnes (in einer grandiosen, dramatischen und zugleich äusserst ruhigen Szene am Krankenbett seiner Frau, welche, wie Gallagher in seinem Buch schreibt, die einzige, unmögliche Kameraperspektive in Nachkriegs-Ford aufweist, da wir von aussen durch ein hoch angebrachtes Fenster sehen, unter dem die Rekruten marschieren), oder beim Tod seiner Ehefrau. Zwischen Szenen können Jahre vergehen, ohne dass dies angekündigt wird. Man kann sie am Saum von Mahers Uniform an den Abzeichen ablesen.




Insgesamt ist der Film in angenehm nüchternem Ton gehalten, denn: Charakterlich durchläuft die Hauptfigur keine grosse Veränderung – deshalb gibt es keinen vorhersehbaren narrativen Bogen. Es ist das Leben selbst, das sich bewegt, das vorwärtstreibt, das Altern – mehr hat der Film nicht nötig. Dramatische Ereignisse gibt es genug, doch erscheinen sie völlig natürlich, und wird ihnen kein besonderer Platz zugestanden, oft sind sie reduziert, auf Eindrücke, Impressionen, die, so schnell sie erschienen, schon auch wieder weggetragen sind vom Fluss des Lebens. Ford hasst Exposition, Erklärungen. Diese Subtilität macht den Film herausragend und für mehrere Sichtungen attraktiv. Wichtige Details können zunächst übersehen werden, gar ganze Personen: in einer der vielen, vielen Tisch- / Essenszenen im Hause Maher fehlt plötzlich der Bruder, der, zusammen mit dem Vater, etwas später von Irland nach West Point zog. In dieser Szene sind aber Gäste anwesend und die Unterhaltungen so anregend, dass ich dies nicht bemerkte; erst viel später stellt sich heraus, dass der Bruder ins „freie Land“ wegzog, um im Kapitalismus Fuss zu fassen, ein Unternehmen zu gründen (und sich in die amerikanische Gesellschaft zu integrieren, was Marty, trotz allem, verwehrt bleibt); und erst hier geht einem das Licht auf, dass dieser Bruder zuvor nicht zugegen war. Ebenso: kurz bevor der Vater dem Protagonisten eröffnet, dieser bekomme ein Kind, hält sich o’Hara flüchtig die Hand auf den Bauch, ein prägnanter, aber leicht zu verpassender Moment, auch weil Ford das CinemaScope-Format praktisch immer füllt mit mehreren Personen gleichzeitig. (Bild, Bild, Bild)
Die Kamera ist generell oft weit von den Akteuren entfernt, und die Einstellungen dauern lang (die ASL, Average Shot Length beträgt 13 Sekunden, etwas mehr als für Ford und Hollywood üblich). Dies führt zu teils komplexen Dynamiken im Bild. Als Beispiel hier eine andere Tisch- / Essenszene, die Re-union Mahers mit Bruder und Vater:
Während Marty (stehend) zur Familie spricht, ist diese mit Essen beschäftigt, der Vater degustiert den Kuchen der Ehefrau,

die dann fragend zu ihm schaut, ob‘s ihm geschmeckt habe.

Dann wendet sie sich ihrem Mann zu, während nun aber der Bruder zu Martys Pfeife greift.

Hier unterbricht Marty das Gespräch um seinen Bruder auf die Pfeife hinzuweisen; diesen Moment wiederum nützt seine Frau, um sich des Vaters zu kümmern:

Als die Familie dann in den Nebenraum ausweicht, um ein irisches Gebet zu sprechen, sind sie spiegelverkehrt zu vorher angeordnet.

Für einen Film über eine Militärakademie ist erstaunlich, wie viele typische Familienszenen enthalten sind, wie viele Szenen in Küchen und an Esstischen spielen. In Mahers Haus befinden sich drei Räume, Küche, Esszimmer und Wohnzimmer, in denen sich wohl die Hälfte des Films abspielt, und auch an den leichten aber stetigen Veränderungen im Inventar und den Farben kann man viel ablesen über den Fluss der Zeit. Dave Kehr ordnet „The Long Gray Line“ denn auch einem Cluster von Filmen über die Ehe zu, die Ford in den 50ern gedreht hat (neben „Rio Grande“, „Mogambo“, und „The Quiet Man“). Zwei Institutionen also – Ehe und Militärakademie – deren Interessen vordergründig nicht vereinbar sind: auch diese Reibung ein Thema des Films. Ganz speziell sticht unter den Küchenszenen aber eine gegen Ende des Films heraus, zu Weihnachten, lang nach dem Tode o’Haras. Die Hauptfigur, nun eine stark gealterte, gezeichnete, beinahe gebrochene Erscheinung macht sich in seiner Küche ein zwei Eier. Man glaubt es kaum, dass diese Szene, in einer 90-sekündigen Einstellung gedreht, aus einem Hollywood-Film entstammt und nicht „Jeanne Dielman“. 


Die Tragik dieser Einstellung wird noch erhöht, indem danach junge, frische Rekruten hinzukommen, deren Väter Maher alle gekannt hat – sie umgarnen ihn, versorgen ihn, reichen ihm Kissen und Schal, um es ihm möglichst gemütlich einzurichten. Mit der Präsenz dieser Soldaten ist die Vergangenheit so nah, und wird eins mit der Realität dann in der Schlusssequenz, einer letzten Parade, Maher zu Ehren gehalten, und inmitten dieser Parade erscheinen ihm all diese längst vergangenen Personen, Familienmitglieder, im Krieg verstorbene Soldaten. Sie versinnbildlichen das typische Ford-Thema von der Gegenwart der Vergangenheit (dieses Thema ist auch Ausgangspunkt des Regiepaares Straub-Huillet, welches den Ford-Einfluss bei jeder Gelegenheit erwähnt und das diesen Film hier als „Experimentalfilm“ bezeichnet hat. Und wenn in derselben Szene ganz am Bildrand im Hintergrund zeitgenössische Autos und Reisebusse mit Touristen zu sehen sind, während vorne die Parade weiterläuft, dann erinnert das stark an Straub/Huillet-Filme wie „Othon“ oder „Antigone“, bei denen das antike Setting und antike Kleider mit Autobahnlärm konterkariert wird.).




Obwohl Maher von allen geliebt wird, bleibt er immer Aussenseiter, selbst im Kreise seiner Angehörigen. Was auch visuell verdeutlicht wird: man achte mal darauf, dass er bei sämtlichen Screenshots mit mehr als 2 Personen in diesem Beitrag immer am Bildrand steht.


9 / 10
Autor: Cameron

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen