Mittwoch, 28. Mai 2014

Die Hölle auf Erden? - Klassiker der Extraklasse: Das Schlangenei (1977)




»It's like a serpent's egg. Through the thin membranes, you can clearly discern the already perfect reptile.« - »Das Schlangenei« ist vielerlei Hinsicht für bergmansche Verhältnisse ein ungewöhnliches Werk, einmal weil er der erste Bergman war, der außerhalb Schwedens gedreht werden musste und auf der anderen Seite, da Bergmans Film hier weniger Analyse als denn Zeitporträt und das nach Shakespeare interpretiert ist. Die Szene: Das Berlin im Jahre 1923, im November und schon das Intro stellt die Kontraste der Zeit deutlich dar, wenn einerseits die blassen Gesichter der Menschenmasse in schwarzweißen Bildern ein bedrückendes Zeitgefühl vermitteln, während die dazwischen einlaufenden Credits mit belebten Jazzsound unterlegt sind. Goldene Zeiten scheint es nicht zu geben, die Armut regiert in Zeiten der Inflation, auch auf den Straßen und in den Häusern. Präzise und bitter rekonstruiert Bergman die Zeit mit kargen Bildern. Im Mittelpunkt steht der Charakter des arbeitslosen Zirkusakrobaten und Alkoholikers Abel Rosenberg (mit ungetrübten Blick: David Carradine), dessen Weg durch Straßen und Bars fast wie eine Odyssee durch das Zeitgefühl des Deutschlands der 20er Jahre erscheint. Der Weg führt zur Schwägerin (Liv Ullmann), die etwas verbirgt, über einen Inspektor (Gert Fröbe), der noch seinen festen Glauben in Justiz und  Recht hat und pflichtbewusst seiner Arbeit nachgeht und einem Bekannten, von Beruf Arzt (verdächtig-undurchsichtig: Heinz Bennent).



Dabei greift Bergman aber auch auf diese Weise bekannte Motive seinerseits auf, wie menschliche Zusammenbrüche, emotionale Ausbrüche, Qualen, Depressionen und Schmerzen, den Beistand von Gott und klammernden Zusammenhalt zwischen den Figuren in einer Stunde, in der die Menschheit ihren Glauben verloren zu haben scheint: Straßen voller Gewalt, in der Polizisten nichts von all dem wissen wollen oder die gewalttätigen Übergriffe. Beschwörend und stets schärfend ist Bergman in seiner Erzählung. Diese Szenerie durchstreift Carradine wie ein Suchender und Fragender, der die Antworten ergründen und erforschen will, begleitet von trüben Farben, einer giftigen Atmosphäre und einer detailreichen Bebilderung. Es ist ein finsterer Ort. Eine Zeit geprägt von der Hoffnungslosigkeit, für anderes lässt Bergman keine Chance, wenn jedwede Aussicht zerstückelt wird und Bergman das Verfahren nun immer weiter zuspitzt und radikalisiert, auch im Widerspruch vom grotesken Cabaret zu den entmenschlichten Straßen. Es sind jene ausgestorbenen Gassen, die eine apokalyptische Stimmung vermitteln, als stände das Ende kurz bevor. Dies mündet im unheimlichen Weiß, wenn aus Beschwörung nun Verschwörung wird und Bergman daraus kritische Bilanz zieht, aus der vorhergehenden Odyssee, die sich der Beleuchtung der Zeit, der Menschen und Situation widmete. Diese Puzzleteile des Gesehenen werden dann zu einem Ganzen geformt. »Das Schlangenei« wirkt somit wie eine Erweiterung von Bergmans menschlichen Analysen, hier ist es nun keine Einzelperson, sondern eines gesamten Kollektivs, welches er untersucht und so prophezeiht er weitsichtig aus dem was bereits geschehen ist, das Aufsteigen des Nationalsozialismus in erschreckenden Bilder und in einer umfassenden Intensität transportiert, die noch lange danach im Gedächtnis verweilen werden mit einem unangenehmen Schlucken verbunden.


8.0 / 10


Autor: Hoffman

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