Donnerstag, 13. April 2017

Kritik: Das unbekannte Mädchen (2016)


Wenn man das neuste Werk der Dardenne-Brüder sieht, dann muss man, wenn man nun eine Rückschau machen würde, festhalten, dass die Eruptivität ihres Frühwerkes vergangen ist. Die Inszenierung in ihrem neusten Werk ist überaus genügsam. Die Dardennes haben sich eingespielt, was ihren Stil angeht, stürmen gewiss mit ihrem neuen Werk nicht mehr nach vorne, wie es vielleicht früher einmal war. Der Film ist reduziert inszeniert. Die Schulterkamera bleibt an den Figuren, bleibt aber auch auf Distanz. Sie beobachtet. Die Dardennes versuchen so wenig wie möglich zu schneiden, sie vertrauen der Mise-en-Scene, wahrscheinlich, um der Realität so nah wie möglich zu kommen. Die Szenen werden durchgefilmt. In einer Einstellung versuchen die Dardennes in den meisten Fällen dieses Films ihre Szenen unterzubringen. Intimität wird dann meist dadurch auch erzeugt, dass (in Innenräumen und mithilfe von Zweier-Shots) die Kamera zu den Figuren vordringt, die Kamera bedachtsam an die Gesichter ihrer Darsteller herangeführt wird. Folglich besticht der Film damit auch in dieser Hinsicht mehr durch seine Einfachheit, seinen Fokus auf seine Figuren, die im Bild präsent bleiben sollen. Ablenkung wird vermieden, die soziale Realität in den Blickwinkel genommen.



Dennoch bedeutet »Das unbekannte Mädchen auch keinen Stillstand, denn die Dardennes denken mit diesem Werk klug ihren letzten Film weiter. Sie stellen zwar eine zentrale Figur (eine junge Ärztin, Adèle Haenel) in den Raum, deren Charakter im übrigen mehr dadurch geschildert wird, was sie tut und wie sie handelt, der Blick der Dardennes ist gleichzeitig aber auch immer auf die Gesellschaft gerichtet. Die Dardennes verstehen diesen Film wohl mehr episodenhaft. Die Protagonistin führt uns in die verschiedenen Leben ihrer Patienten. Lebensgeschichten werden dadurch angerissen. Es entsteht ein Panorama von Ausschnitten aus Menschengeschichten (als Randmerkung ist an dieser Stelle vielleicht auch interessant zu sehen wie wieder eine ganze Schar von ehemaligen Dardenne-Schauspielern hier wieder in den Film integriert wurde). Darum geht es wohl diesem sozial engagierten Film, der seine Protagonistin wiederum mit der Schuldfrage konfrontiert und zu einer Suchenden macht. Damit sagt der Film auch viel über diese Figur aus, die uns auf den ersten Blick unterkühlt erscheint, deren Gesicht und ihre Reaktionen die Dardennes aber sehr vorsichtig betrachten. Denn sie verzichtet auf eine Karriere, um den Menschen zu helfen, um bei ihnen zu sein.


Die Dardennes benutzen zudem die Folie eines Kriminalfilms, um den ´Plot´ in Gang zu setzen, denn eigentlich kreist dieser Film immer wieder um die gleichen Orte und Figuren und beginnt dort Schicht für Schicht etwas auszugraben. Ihre Protagonistin wird zur Ermittlerin und überschreitet damit auch ihre eigenen Grenzen, was die Dardennes auch deutlich machen. Und das ist dann auch etwas, dass den Film so klug macht, weil das tatsächlich mal ein Krimi ist, der genauso in der Realität ablaufen könnte und der auch deutlich macht, dass diese Ärztin keine Polizistin sein kann. Das macht den Film so bodenständig, so unaufdringlich, so clever, weil er jeglichen Konventionen des Genres eine Abfuhr erteilt. Für diesen Film geht es hier mehr um die Erforschung der Menschen und ihrer Geheimnisse, die im Verborgenen schlummern und Zeit brauchen um gelüftet zu werden, in dem sich die Figuren dazubekennen (oder eben nicht, wie Olivier Gourmot). Diese Menschen hadern mit ihren Geheimnissen und Schwächen. Das ist im Herzen dieses Films rührend und zutiefst humanistisch, da nun einmal den Menschen verpflichtet. Dieser Film hört seinen Figuren zu, ist dabei vielleicht keine Großtat im Schaffen der Brüder, aber ein routiniertes Werk, bei dem man doch irgendwie glücklich ist, dass sie immer noch gibt, diese Dardenne-Brüder und weiter ihre Filme drehen.



7.0 / 10



Autor: Hoffman 




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