Mittwoch, 17. August 2016

Am Anfang war das Nichts - Klassiker der Extraklasse: "Je tu il elle" (1974)

Es gibt Filme wie Chantal Akermans "Je tu il elle", nach denen man sich denkt: Dies ist die einzige legitime Art, einen Film zu machen. Jeder andere gesehene Film erscheint nicht länger relevant, geradezu lächerlich, der Mühe nicht wert.
Dieser Film besitzt eine unglaubliche Universalität. Sich ihn anzusehen, benötigt keinerlei Vorkenntnisse ausser der Erfahrung des Menschseins. Dies ist normalerweise kaum je der Fall; selbst einem noch so simplen Film liegt eine Vorgeschichte zugrunde, diejenige eines Landes, seiner Bewohner, die ergo auf soziale Schicht, Milieu, Rituale, Ethik, auch Charakter etc. der handelnden Personen sich auswirkt, ihr Tun bestimmt. Solch ein Film sucht Gründe zu finden für das Handeln der Menschen, die ausserhalb ihrer liegen; was treibt sie an, wie lenkt ihr Schicksal ihren Lebensweg? Ein idealer Zuschauer sollte diese Vorgeschichte in allen Details kennen; andernfalls entgehen ihm Informationen, die für das Verständnis des Gezeigten eine Rolle spielen. Diese „Vorgeschichte“ kann auch auf einer Meta-Ebene wirken: ein Film, der sich an anderen Filmen orientiert, oder bewusst nicht orientiert; und hat ein Zuschauer vor diesem Film einen bestimmten anderen Film gesehen, dann erscheint ihm Ersterer in völlig anderem Licht, als wenn dies nicht der Fall wäre. Am wenigsten weisen gewisse Avantgarde-Filme (z.Bsp. abstrakte) eine „Vorgeschichte“ auf, obschon sich auch viele Avantgarde-Werke auf bereits existierende Kunstwerke berufen.
Deshalb überrascht es vielleicht nicht, dass Akermans Filme vor „Je tu il elle“ sich quasi in einer avantgardistischen Tradition verorten lassen können, oder zumindest stark davon beeinflusst sind (Akerman nennt Michael Snows „La région centrale“ als Film, von dem sie ein Gespür für filmische Raum-Zeit erlernt habe). „La chambre“ und „Hotel Monterey“ (beide 1972) erforschen den menschengeschaffenen Raum, und dadurch auch den Menschen, der in ihnen waltet, obwohl er in diesen Filmen beinahe abwesend ist. In „Je tu il elle“ rückt er in den Mittelpunkt, wobei: Er ist auch der einzige Punkt, um ihn herum ist nichts.


Was wir sehen: eine junge Frau (Akerman selbst), allein in einem winzigen Zimmer. Aus dieser Prämisse entwächst der Film; wir wissen nichts über die Frau, und müssen auch gar nichts über sie wissen. Der Film, den wir sehen, ist in jeder Bildkomposition, jedem Schnitt, der einzige Film, so scheint es, der aus dieser Situation heraus ohne „Vorgeschichte“ entstehen kann. Dieser Film mag befremdend anmuten, dringt aber gleichzeitig zum Kern der Menschenseele, des Seins vor. Die Frau im Zimmer macht nichts – was soll sie auch tun? Nicht nur ist sie keinen externen Antrieben und Verpflichtungen (der Vorgeschichte) ausgesetzt; auch innerlich ist sie sozusagen dem „Trägheitsgesetz“ untergeordnet. Und aus diesem Nichts entspringen dann doch automatisch gewisse Dinge; sie spielt mit ihrem Atem (vergisst dieses Spiel aber mit der Zeit und macht wieder nichts – so erzählt sie aus dem Off); sie schiebt ihre wenigen Möbel umher und schliesslich ganz aus dem Zimmer; sie betrachtet sich selbst, manchmal nackt, manchmal nicht; sie isst, doch was?: einen Sack Zucker, löffelweise, stösst den Sack um und gibt den Inhalt mühsam wieder zurück. Und sie schreibt Briefe, unendliche, an wen ist unklar… vielleicht an niemanden. Dies entsteht im Film nach und nach, langsam; aber eigentlich war es immer schon da. Wir legen nur eine Schicht nach der anderen frei, erkennen es. Auch die Sehnsucht nach Sexuellem wird so freigelegt und überträgt sich dann auf den weiteren Verlauf des Films. Die Wirkung des Films ist so stark, dass ich eigentlich nicht über ihn schreiben sollte, es fehlt die Distanz. Sich selbst erkennen – ist es das, die Aufgabe der Kunst? Zweifelsohne ist die Wirkung eines Kunstwerks auf den Betrachter immer dann ausserordentlich kräftig, wenn er das Gefühl hat, etwas von seinem Wesen sei hier dargestellt – gewissermassen ein Spiegel, der ihm vorgehalten wird. Der Künstler und der Rezipient liegen dann auf einer Linie; jedoch macht man es sich so auch zu einfach, da wir dazu tendieren, alles so zu deuten, dass es uns am meisten entspricht. Wir wollen uns immer selbst sehen, und verlieren so die Welt aus den Augen, verbeissen uns vielleicht in einem Detail und vergewaltigen das Kunstwerk. Wenn wir auf der Leinwand eine Person sehen, mit der wir uns stark identifizieren können, und dann weinen, weil es ihr schlecht geht, und weil wir uns in sie hineinprojizieren – dies ist, was Pedro Costa in einem Vortrag als „Fastfood“ bezeichnet hat.
– Dies am Rande. Akerman schafft etwas Distanz, indem sie im Off das zu Sehende kommentiert. Manchmal (selten) korrespondiert die Stimme mit dem Bild; manchmal hören wir etwas, lange bevor oder nachdem wir es sehen, manchmal scheinen sich Ton und Bild zu widersprechen, resp: wir wissen nicht, ob das, was wir hören, irgendwann stattfindet (aber nicht im Film), oder überhaupt nie, und wir wissen nicht, ob wir Ton oder Bild mehr trauen sollen.


Irgendwann stösst die Frau im Zimmer die Fenstertüre auf und verlässt den Raum, ohne sie zu schliessen. Und wie die Frau verlässt auch der Film das Zimmer; er öffnet sich, hebt ab, schwebt dahin. Nie mehr werden wir in dieses Zimmer zurückkehren. Es folgen zwei auch sexuelle Begegnungen, mit einem der Frau fremden Mann (im zweiten Teil) und einer ihr bereits bekannten anderen Frau (dritter Teil). Die Chronologie der drei Teile bleibt offen; zwar erscheint es durch das Öffnen der Türe zum Schluss des ersten Teils und dem darauffolgenden Schauplatzwechsel nach draussen als logisch, der zweite Teil folge dem ersten, handfeste Beweise dafür gibt es allerdings nicht. Auch der dritte Teil muss nicht unbedingt zu Ende der Chronologie stehen; der Film beginnt mit der Stimme Akermans, die sagt: „und so ging ich weg“; wir sehen jedoch erst jeweils als Ende des ersten und des dritten Teils ein Weggehen, wohingegen sie zu Beginn ruhig im Zimmer sitzt.
Die Bildkompositionen sind in einer Weise beschaffen, die man gemeinhin als „Poetik des Alltäglichen“ abtut: Den gewöhnlichsten, uns wohlbekanntesten Dingen, Gegenständen und „settings“ (Fenster, Wcs, Cafés) werden atemberaubende, expressive, ästhetisierte Schwarz-Weiss-Ansichten abgewonnen. Aber es sind die einzigen Bildkompositionen, die sich aus einem zugleich intensiv erlebten und zermürbend öden Alltag ergeben können. Diese alltäglichen Dinge werden uns neu bewusst gemacht, als würden wir sie zum ersten Mal sehen. Akermans Blick ist immer geprägt von dieser Neugierde, den Dingen „auf den Grund zu gehen“; eben nicht nur den Personen, sondern auch Gegenständen oder ganzen Zimmern. Die Einstellungen werden solange gehalten, wie wir diese Dinge, würden wir sie zum ersten Mal sehen, im echten Leben ansehen würden; genug Zeit, um alles zu absorbieren, aber keineswegs überlange.




Im zweiten Teil gibt es einige Einstellungen, in der sich die Frau und der Mann, ein Lastwagenfahrer, der von Zeit zu Zeit Pausen benötigt, in Kneippen gegenüber- oder nebeneinander sitzen. Sie sprechen kein Wort, sind alleine mit sich beschäftigt, und reagieren dennoch auf die Präsenz des anderen; mit Körpersprache, mit ganz kurzen Blicken. Diese Einstellungen werden sehr lange gehalten, doch habe ich überhaupt kein Problem damit, gehören sie doch zu den schönsten Szenen des Films, denen man wirklich ewig zuschauen könnte. Es gibt kaum etwas Spannenderes, als zwei Menschen zuzusehen, die nonverbal interagieren. Auch deshalb ist der Film universell – diese Szenen lassen Dialoge in anderen Filmen überflüssig, unnötig, geradezu wahrer Spannung und Erfahrung abträglich zu sein. Auch sonst wird in „Je tu il elle“ beinahe gar nicht gesprochen, abgesehen von einem Monolog des Lastwagenfahrers und der nur zu Beginn und auch da äusserst spärlich eingesetzten Off-Stimme Akermans. Die auf der Leinwand zu sehende Akerman spricht kaum je.


Obwohl der Film surreal anmutet, ist er doch so real wie kaum ein Film. Ich habe „Jeanne Dielman“ und viele andere Filme Akermans noch nicht gesehen, doch hätte sie nur „Je tu il elle“ gedreht, sie hätte die Filmlandschaft für mich verändert, mein Kino neu erfunden. 

10 / 10


Autor: Cameron

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